Arnold Vaatz: Deutsche Einheit ist ein Glücksfall für alle Menschen in Deutschland

Vaatz Jpg

Die deutsche Wiedervereinigung jährt sich am 3. Oktober 2018 zum 28. Mal. Dazu erklärt der für den Aufbau Ost zuständige stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und Sprecher der ostdeutschen CDU-Abgeordneten, Arnold Vaatz MdB:

Die Deutsche Einheit ist für alle Menschen in Deutschland ein Glücksfall. Sie markiert zugleich einen Etappensieg gegen die diktatorischen Regime, die Europa von Berlin bis Wladiwostok geprägt hatten und deren Errichtung und Erhalt von 1917 bis 1989 vielen Millionen Menschen das Leben gekostet hat. Es gelang den Ostdeutschen, sich aus dem Klammergriff des sowjetischen Imperiums zu befreien, ohne dass hierbei ein einziger Schuss fiel. In der schriftlich überlieferten deutschen Geschichte ist eine auch nur annähernd ähnliche politische Leistung mit derart umwälzenden Folgen und einem solchen ausgeprägten Geist der Achtung der Würde des Menschen unbekannt. Dies ist umso bemerkenswerter, als große Teile der westdeutschen Gesellschaft, besonders ihres linken und grünen Spektrums, diesen Prozess sehr distanziert wahrgenommen oder gar abgelehnt haben. Die Ostdeutschen dürfen Stolz empfinden, dass sie im Gegensatz zu den Gesellschaften Westeuropas, denen die Demokratie von siegreichen Alliierten ermöglicht wurde, die Freiheit, die Gewaltenteilung und die verfassungsmäßig garantierte Achtung der Menschenrechte aus eigener Kraft gewaltlos erkämpft haben. Keine Generation in Deutschland kann derartiges von sich sagen.

Dass wir heute ein Deutschland – und auch ein Europa – erleben dürfen, dass in Frieden und Freiheit wiedervereinigt ist, verdanken wir aber auch in hohem Maße der Regierung von Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl. Wer sich die Äußerungen verschiedenster Repräsentanten aus den politischen Führungsetagen der Bundesrepublik Deutschland in den 1980er Jahren und noch bis tief in das Jahr 1990 hinein vergegenwärtigt, der kann nicht umhin, den Eindruck zu gewinnen, dass es im Jahr 1990 für einen Bundeskanzler, dessen Absicht es gewesen wäre, die Deutsche Wiedervereinigung zu verhindern, weitaus leichter gewesen wäre sein Ziel zu verwirklichen, als es für die Regierung Helmut Kohl war, die Nachbarn Deutschlands davon zu überzeugen, dass eine von ihnen erzwungene ewige Zweistaatlichkeit weitaus größere Probleme für die Zukunft Europas mit sich gebracht hätte, als eine deutsche Wiedervereinigung und dieselbe schließlich in Frieden, Freiheit und nach demokratischen Regeln zu erreichen.

Der Aufbau Ost ist dank einer beispiellosen Solidarleistung auf einem guten Weg. Die Brüche, die dabei zu verzeichnen sind – in den Biographien der Menschen, in der wirtschaftlichen Bedeutung von Territorien, in der
Bevölkerungsstruktur Ostdeutschlands und nicht zuletzt in den Gefühlen der ehemaligen DDR-Bürger – sind bedeutende Herausforderungen, mit denen wir noch viele Jahre konfrontiert sein werden.

Die Vorstellung, dass die Erneuerung Ostdeutschlands nach den historisch gewachsenen Rezepten der alten Bundesrepublik gelingen könne, hat sich als kurzsichtig erwiesen. Vielmehr offenbarte sich während des Aufholprozesses, dass das Ausmaß der wirtschaftlichen Erosion während der SED-Herrschaft und der entstandene technologische Rückstand des Ostens nicht die alleinigen Probleme darstellten, die zu bewältigen waren. Von großer Bedeutung waren das Aufeinanderprallen von unterschiedlich historisch gewachsenen Mentalitäten und ein für viele Ostdeutsche unerträgliches offen zur Schau getragenes Überlegenheitsgefühl der Westdeutschen, das sich in
vielen Fällen als unbegründet herausstellte.

Ebenso zeigte sich sehr schnell, dass der Bewegungsspielraum innerhalb eines in erstickender Dichte durch einen unüberschaubaren Gesetzesapparat überregulierten Lebens in vielen Einzelfällen für die Anforderungen des Aufbaus in Ostdeutschland zu gering war und nicht selten vernünftige Entscheidungen ohne über den juristischen Zwang hinausgehende Gründe verhinderte. So ist es bis heute sehr zu bedauern, dass eine Neugründung von Wirtschaftsinfrastruktur in dem Maße, wie sie hätte in Ostdeutschland entstehen können, am Entstehen gehindert wurde, indem die deutsche Politik sich nicht in der Lage sah, dem damals von Otto Graf Lambsdorff stammenden Vorschlag zu folgen, eine Sonderwirtschaftszone als Niedrigsteuergebiet in Ostdeutschland zu errichten. Es ist nach den enormen strukturellen Rückschlägen, die in Ostdeutschland ganze Regionen in die wirtschaftliche Bedeutungslosigkeit katapultierten, sowie angesichts der nunmehr 28jährigen völligen Erfolgslosigkeit durch politische Kopfgeburten wie Lausitzring oder Cargolifter einen wirtschaftlichen Aufschwung zu organisieren, unverständlich, weshalb der Lambsdorffsche Gedanke auch weiterhin in der deutschen Tagespolitik nahezu keine Beachtung findet.

Hinzu kommt, dass in vielen Fällen die politischen Zusagen gegenüber Ostdeutschland nicht eingehalten wurden. Dies betrifft zum Beispiel die Umsetzung der Entscheidung der Föderalismuskommission zur Ansiedlung von Bundesbehörden in Ostdeutschland. Die Tatsache, dass trotz abenteuerlicher Verfahrensdauern die Bundesjustizminister bis heute keinen Anlass zu einer Aufstockung der Senate unserer höchsten Gerichte sahen und dies wohl hauptsächlich aus dem Grund, um die Verlagerungen von Senaten von Karlsruhe nach Leipzig zu verhindern, ist hierfür symptomatisch. Der Bruch diverser politischer Versprechungen aus den Anfangsjahren über den Zeithorizont der Braunkohleverstromung in Ostdeutschland steht unmittelbar bevor.

Ferner wird zunehmend bemerkt, dass die Kehrseite der westdeutschen Solidarität mit Ostdeutschland auch die Funktion Ostdeutschlands als verlängerter Stellenplan für öffentlich-rechtliches Personal aus Westdeutschland ist. In überproportionalem Maße sind gehobene Stellen in der ostdeutschen Administration durch Personen belegt, die in Westdeutschland aufgewachsen waren. Beim Anblick der ostdeutschen Landesministerien entsteht (überspitzt) gesagt der Eindruck, dass der Minister und der Pförtner aus Ostdeutschland kommen und alle Positionen zwischen diesen beiden von Westdeutschen wahrgenommen werden.

Hinzu kommt, dass die dominierenden Medien - besonders Rundfunk und Fernsehen - Ostdeutschland ausschließlich durch die westliche Brille interpretieren, als müsse man dem westdeutschen Publikum eine unbekannte, selber nicht artikulationsfähige Spezies erklären. Die Möglichkeiten der Ostdeutschen aus dem verbalen Koordinatensystem des Westens eine eigene Sprach- und Problemsicht gegenüber zu stellen, sind durch die redaktionellen Vorstellungen der Mediengestalter im Keim erstickt.

Nicht zuletzt diese seit 1990 anhaltende Bevormundung Ostdeutschlands durch die deutschen Leitmedien wirkt als Katalysator einer in vielen Teilen Ostdeutschlands spürbaren wutentbrannten Abwendung der Menschen von
demokratischen Parteien. Dieser Zustand ist für die Zukunft des wiedervereinigten Deutschlands nicht mehr ungefährlich.

Allerdings sind alle sich aus dem bisher gesagten ergebene Gefahren durch kluges politisches Handeln abwendbar. Voraussetzung hierfür ist, sie klar, ungeschminkt und ideologiefrei zu benennen und zu analysieren. Wir sind
alle aufgefordert, diese Arbeit zu leisten und uns in den folgenden Monaten und Jahren weit vorurteilsfreier und offener den Fragen zu stellen, die die Deutsche Wiedervereinigung mit dem heutigen Stand aufwirft, anstatt mit
vorgefertigten Worthülsen vom Tisch zu fegen. Dann und nur, wenn uns dies gelingt, werden wir uns als würdige Fortsetzer des gewaltigen Werkes von 1989 und 1990 erweisen.